In den folgenden, kurzen Thesen soll der Begriff einer “experimentellen Kulturwissenschaft” skizziert werden. Der Begriff stammt von Stephan Porombka, ich habe ihn von ihm zum ersten Mal hier gehört, und arbeite mit ihm zusammen nun schon seit einigen Jahren an gemeinsamen und eigenen Fragen in diesem Bereich. Seine Überlegungen sind aus diesen nicht wegzudenken.
Die Skizzen hier sind nur Umrisse, oder Figuren, Ränder oder eher Schraffuren einer Praxis, eine Positionsbestimmung, ein Programm, Vorschlag eines Begriffs, den es im Einzelnen noch immer zu entfalten gilt.
Ich würde es Manifest nennen, gäbe es nicht schon zu viele davon und wäre es schon manifester. So bleiben es einige programmatische Überlegungen zur Orientierung, eine Erklärung und ein Bekenntnis (m)eines wissenschaftlichen Selbstverständnisses.
Thesen zu einer “experimentellen Kulturwissenschaft”
Experimentelle Kulturwissenschaft ist eine Form des Forschens und Lehrens, welche die konstitutive Verwicklung kulturwissenschaftlicher Praxis in die Gegenwart ihrer Gegenstände reflektiert und zur Darstellung bringt und darin ihren erkenntnistheoretischen und -praktischen Bezugspunkt erkennt.
Unter Bedingungen ihrer Flüchtigkeit ist die Beobachtung der Gegenwart notwendig interventionistisch, performativ, verwickelt. Distanzierte Beobachtungsformen brechen auf, verflüssigen sich zu Bewegungsfiguren in Schlaufen, werden Übungsformen und Praxis.
Experimentelle Kulturwissenschaft nimmt die Subjektrelativität objektiver Gegebenheit zu ihrem Programm; sie ist daher idiosynkratisch, partiell, ästhetisch, reflexiv, performativ und arbeitet in kleinen Formen.
Die Forschungsmethoden und erkenntnistheoretischen Grundlagen experimenteller Kulturwissenschaft werden aus klassischen Methoden experimenteller Forschung, ästhetisch-künstlerischer Forschung, sowie den Methoden kultur- und geisteswissenschaftlicher Gegenwartsforschung entwickelt. Experimentelle Kulturwissenschaft entwickelt Experimentalsysteme (Rheinberger) zur Beobachtung von Gegenwart, d.h. «Maschinen zur Herstellung von Zukunft», und arbeitet damit immer zugleich an der Beobachtung ihrer Gegenstände wie an der Form der Durchführung und Darstellung ihrer selbst.
Experimentelle Kulturwissenschaft geht von der subjektrelativ gegebenen, leibkörperlich vermittelten Objektivität der Realität aus, versteht jedoch jede Forschung zugleich als Beitrag zur Reflexion der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Sie ist in dieser Hinsicht immer Grundlagenforschung, in der dialektischen Vermittlung von Gegenstand und Darstellung, von Beobachtetem und Beobachter, Ding und Begriff, ist sie jedoch nie anders als konkret, an und in den Sachen selbst zu entwickeln. Sie ist epistemologische Empirie und empirische Epistemologie zugleich.
Als ästhetisch-künstlerische Forschung ist Experimentelle Kulturwissenschaft sinnlich-sinnhaft, sucht sprachliche Vermittlung in der Darstellung doch geht darin nicht notwendig auf. Die ästhetischen Dimensionen der Welt entziehen sich sprachlich-begrifflicher Fest_stellungen. Experimentelle Kulturwissenschaft arbeitet am «Saum des Sinns» (Nancy).
Experimentelle Kulturwissenschaft begreift die Darstellung der Erkenntnis immer als Teil der Erkenntnis sowie wissenschaftlicher Praxis selbst. Dies umfasst erfordert sowohl die praktische Reflexion kulturwissenschaftlicher Tätigkeiten als auch die Materialität ihrer Medien. In keinem Aspekt Experimenteller Kulturwissenschaft ist eine Trennung von Erkenntnis, Praxis und Medium möglich. Dies aufzuzeigen ist konstitutive Aufgabe der Experimentellen Kulturwissenschaft.
Experimentelle Kulturwissenschaft arbeitet in kleinen Formen, grösseren Systemen und umfassenden Ökologien.
Die kleine Form ist dabei ihr wesentlicher Zugang. Nicht nur ist das Zeitalter der grossen Erzählungen zu Ende. Die kleinen Formen sind darüber hinaus Anfänge, Zugänge, Hinweise, Aufforderungen, eher Tiefenbohrungen statt flächendeckende Architekturen. Ein essayistischer Zugang im Schreiben und Ausdruck ist für Experimentelle Kulturwissenschaft konstitutiv: suchend, versuchend, schweifend, zugleich genau, den Phänomenen verpflichtend; die Dialektik von Beschreibung und Gegenstand ist gerade in der kleinen Form als immer konkret zu entwickeln. Experimentelle Kulturwissenschaft legt Anfänge aus; ihre Erkenntnisse fordern auf und ein, lassen sich nicht konsumieren, sondern suchen Anschlüsse, Bewegungen, Praxis. Sie misstraut den grossen Abschlussgesten, arbeitet im Medium der Vorläufigkeit sowie der Spekulation.
Die kleinen Formen stehen jedoch immer im Kontext grösserer Zusammenhänge. Einzelne Versuche und Experimente schliessen sich zu Experimentalsystemen. Die iterative Bewegung ist bereits in der Begrenzung kleiner Formen impliziert. Sie ist zudem der Bewegung der Forschung überhaupt, dem Modus der Kritik verpflichtet. Experimentalsysteme werden verstanden als Zusammenschlüsse ohne aus- oder abzuschliessen. Experimentelle Kulturwissenschaft schafft Räume von Möglichkeiten.
Am «Saum des Sinns» arbeitet Experimentelle Kulturwissenschaft schliesslich in Ökologien. Medien und ihre Übersetzungen, Praxis und Praxen als wechselseitige Umwelten der Forschung, Theorien und Texte als Lebensraum des Denkens, Kunst und Künste als Feld und Horizont der Entgrenzung.
Experimentelle Kulturwissenschaft befragt die Einheit von Forschung und Lehre neu und stellt einen radikalen Zusammenhang her. Lehre und Forschung sind als wechselseitige Vermittlung zu verstehen. Gegenstände Experimenteller Kulturwissenschaft können in Forschungs- und Lehrformaten gleichermassen beobachtet und zur Darstellung gebracht werden. In der Beobachtung von Gegenwart gibt es keinen eindeutigen Unterschied zwischen Forschung und Lehre.