Über Experimentality

Was bedeutet “experimentelle Kulturwissenschaft” (Porombka, daran im Anschluss Klenk)? Wie lässt es sich unter Bedingungen des Internets geisteswissenschaftlich arbeiten? Und woran? Welche Formen der Darstellung, der Reflexion, welche Formen von Experimenten, welche Routinen des Lesens und Schreibens, aber auch: Hörens und Sprechens, welche Formen der Praxis lassen sich denken – und vor allem: machen und wie?

“Experimentality” bedeutet eine Einstellung zur und Verständnis von Kulturwissenschaft als einer experimentellen Geisteswissenschaft. Der Begriff meint mehr als ‘nur’ eine Methode, und geht auch nicht im Begriff des Paradigmas auf. ‘Experimentalität’ kann vielleicht als der dem Gegenstand angemessene Zugang zu diesem verstanden werden, als wechselseitige Vermittlung von Sache und Reflexion. ‘Kultur’ als Phänomenbereich lässt sich nur handelnd, im Modus der Bastlerin sammelnd (Lévi-Strauss 2013), abschweifend (Düllo 2015), essayistisch (Voegelin), interventionistisch erforschen.

Dies gilt umso mehr, versucht man so etwas Schräges wie Gegenwartsbeobachtung. In der Gleichzeitigkeit von Beobachtung und Gegenstand aller Distanz genommen sind die Bemühungen des Distanzgewinns (sei es mittels Begriffen im Sinne Blumenbergs (Blumenberg 2007), sei es in räumlichen Ordnungen, oder medialen Brechungen) immer Ausfaltungen der Praxis. Man mag hoffen, die Spuren der Eingriffe zur Unkenntlichkeit zu verwischen… aber warum? Die notwendige Involvierung der Beobachterinnen in ihren Gegenstand ist Voraussetzung von Erkenntnis, nicht ihr Hindernis.

In diesem Sinne muss Kulturwissenschaft als experimentelle Geisteswissenschaft immer auch zugleich als Reflexion der eigenen Arbeitsform verstanden und praktiziert werden. Nicht, wegen der dadurch zu gewinnenden Beobachtungsvorteile (das wäre ein Missverständnis), sondern wegen schlichter Notwendigkeit: es geht nur so. Der Nachweis muss stets aufs Neue erbracht werden und vollzieht sich in und als Praxis der Forschung selbst.

Experimentalität ist eine  Haltung zur Welt, “eine Lebensform, die sich dem Unvorwegnehmbaren stellt und es als dauernde Herausforderung begreift.” (Rheinberger 2018, 9)

Die Fragen nach Wahrheit, Erkenntnis, Wissenschaft, und weiter: nach der Möglichkeit zur Erkenntnis, der Bewegung des Denkens als freies Denken, und ihrer Vermittlung als Darstellung, der Darstellung als Vermittlung, als Moment der Erkenntnis selbst, sind unter Bedingungen des Internets neu zu stellen. Das ist so dick aufschneidend wie unerträglich verharmlosend: selbstverständlich sind sie immer neu zu stellen, zugleich stellen sie sich heute dramatisch neu. Ich arbeite an dieser Website als Medium der/als Darstellung, als Werkzeug des Arbeitens, als (Teil eines) Experimentalsystem(s) (Rheinberger), als Oberfläche und labyrinthisch-rhizomatische Verweisstruktur, als Bewegungsraum.

Ausgangspunkte

Ausgangspunkte meiner Arbeiten sind verschiedene: die Arbeit am “Sprechenden Denken” im Podlog, die Iteration des Experimentalsystems im essaysistischen, versuchenden Schreiben (transcript), die Arbeit zu Lehre als Forschung, Vermittlungsverhältnisse prekärer Beschäftigung, Abhängigkeiten und wissenschaftlicher Betreuung der vergangenen knapp zehn Jahre, die Erfahrungen in Gremien, Fachverbänden, Einrichtungen; die Arbeit ausserhalb der Wissenschaft im Bereich journalistischer, öffentlicher Kommunikation und Bildung, und schliesslich immer die Widerständigkeit des Lebens, des Alltags, usw.

Wenn alle Erkenntnis bedroht ist, von aussen durch existenzielle Bedrängnis wirtschaftlicher, politischer, organisationaler, und anderer Abhängigkeiten, wie von innen durch die vernichtende kritische Kraft notwendiger Strenge eines sich selbst den Boden wegreissenden Denkens, dann muss man sich der Umstände durch bastelnde Arrangements, Settings, Maschinen, Versuche, Experimentalsysteme erwehren. Es geht nicht anders, ich wüsste nicht wie.

Der Logik des Experimentellen, der negativen Dialektik, des praktischen Versuchens, des Abschweifens, der Logik der Bastlerin vertraue ich mehr als allem anderen. Sie alleine nimmt die Logik selbst ernst genug, um sie infrage zustellen (Adorno). Es sind nicht konsistente Systeme als Antwortmaschinen (Technologien), kein Ziel, keine Lösung, kein Prinzip, das Rettung, Heil, die Weltformel oder auch nur das Ende bieten kann.

‘Wir beginnen immer mittendrin’ – und hören mittendrin wieder auf (mit Bensaïd mit Deleuze/Guattari).

“Zu den Sachen und zurück” (Blumenberg).

Es gilt Labore und Ateliers einzurichten, Maschinen zu bauen, die Zukunft und Fragen produzieren; es gilt Experimentalsysteme als Erfahrungsräume zu gestalten und eine Praxis experimenteller Forschung als dialektisch-kritische, ästhetische, empirische, praktische und theoretische zu entwickeln.

Bibliographie

Blumenberg, Hans. 2007. Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – Düllo, Thomas. 2015. Abwegen und Abschweifen: Versuch über die narrative Drift. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. – Klenk, Moritz. 2020. Sprechendes Denken: Essays zu einer experimentellen Kulturwissenschaft. Edition Kulturwissenschaft 234. Bielefeld: transcript. – Lévi-Strauss, Claude. 2013. Das wilde Denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – Piazzi, Tina und Stefan M Seydel. 2010. Die Form der Unruhe: Band 2 – Die Praxis. Vom Buchdruck zum Computer. Handlungsprinzipien zum Umgang mit Informationen auf der Höhe der Zeit. Bd. 2. Hamburg: Junius. – Porombka, Stephan. 2015. ›Smarte Medien, mein Alltag & das Medium Buch‹ Prof. Stephan Porombka beim #40 Science Slam Berlin. Bd. 40. Science Slam Deutschland. https://www.youtube.com/watch?v=N0QT7QvxkFs (zugegriffen: 24. Mai 2019). – Rheinberger, Hans-Jörg. 2018. Experimentalität: Hans-Jörg Rheinberger im Gespräch über Labor, Atelier und Archiv. 1. Auflage. Berlin: Kulturverlag Kadmos Berlin. – Voegelin, Salomé. 2019. The political possibility of sound: fragments of listening. New York: Bloomsbury Academic.